Viren und Wir (08): Penicillin – Über Umwege zum Wundermittel

Vor gut 90 Jahren entdeckte Alexander Fleming das Antibiotikum Penicillin. Diese Entdeckung im Jahr 1928 gilt als eine der wichtigsten in der Geschichte der Medizin. Alexander Fleming wurde gefeiert, da mit seinem Medikament Millionen von Menschenleben gerettet werden konnten. Doch diese Geschichte ist unvollständig. Tatsächlich geriet Alexander Fleming nach der Entdeckung des Penicillins in eine Sackgasse. Ihm gelang es nicht, Penicillin zum einsatzfähigen Medikament weiterzuentwickeln. Erst 10 Jahre später griff eine Gruppe von Wissenschaftlern seine Entdeckung wieder auf. Und Ihnen gelang es schließlich, Penicillin zu einem Medikament zu machen, das auch für die breiten Massen verfügbar war. Ohne den Einsatz dieser Gruppe von Wissenschaftlern hätten die Menschen wohl noch viel länger in einer Welt ohne Antibiotika leben müssen. 

Tödliche Gefahren
Eine Welt ohne Antibiotika ist heute kaum noch vorstellbar. Zu sehr hat man sich daran gewöhnt, dass bakterielle Infektionen in der Regel harmlos und gut mit Antibiotika behandelbar sind.  Doch ohne Antibiotika ändert sich die Situation. Wie oft hat man zum Beispiel kleine Schrammen an den Händen. Manchmal entzündet sich eine solche Wunde, Bakterien nisten sich ein. Diese Infektionen lassen sich leicht mit einem Antibiotikum behandeln. In früheren Zeiten konnte eine solche Infektion dagegen unter Umständen tödlich sein. Denn wenn die Infektion nicht gestoppt wurde, breitete sie sich nach und nach auf den ganzen Körper aus. In der Folge kam es häufig zur gefürchteten Blutvergiftung und diese ist ohne Antibiotika praktisch nicht behandelbar. Um die Infektion einzudämmen, mussten die Ärzte zu teils  drastischen Mitteln greifen: zum Beispiel zur Amputation der Hand oder des ganzen Armes. Doch wenn die Infektion zu weit fortgeschritten war, konnten die Ärzte nichts mehr tun. Manchmal geschah ein Wunder und der Patient wurde wieder gesund, aber in der Regel waren diese Patienten dem Tode geweiht. Bakterielle Infektionen und nachfolgende Blutvergiftungen waren damals genauso gefürchtet wie heute vielleicht die Krankheit Krebs.  Es gab keine Heilung. Die Patienten wurden im Krankenhaus versorgt, es wurden die Verbände gewechselt, sie bekamen Medikamente gegen die Schmerzen, aber in vielen Fällen warteten die Patienten auf den Tod. In der damaligen Zeit waren große Abteilungen der Krankenhäuser belegt mit Patienten, die an unheilbaren bakteriellen Infektionen litten. Auch für uns heute banale Infektionen wie eine Blasenentzündung oder eine Bronchitis konnten damals unter Umständen zum Tod führen. 

Flemings Beitrag
Die Ära ohne Antibiotika endete im Jahr 1945 mit der industriellen Produktion von Penicillin. Zwar gab es auch schon zuvor Antibiotika-artige Wirkstoffe, doch keiner war so mächtig und wirkungsvoll wie Penicillin. Den ersten Schritt zur Einführung dieses Wundermittels machte Alexander Fleming im Jahre 1928. Fleming war Mikrobiologie am Londoner King‘s College erforschte das Bakterium Staphylococcus aureus. Um diese Eitererreger zu vermehren, strich er die Bakterien auf Petrischalen mit Nährmedium aus. Als er eines Tages aus dem Urlaub zurückkam, untersuchte er Platten mit Staphylococcus aureus, die er offenbar vergessen hatte, zu entsorgen. In den Wochen seine Abwesenheit waren nicht nur Bakterien in den Petrischalen gewachsen, sondern auch Schimmelpilze. Solche Verunreinigungen sind ein Grundproblem für jeden Mikrobiologen. Die verunreinigten Platten werden in der Regel entsorgt  und man startet das Experiment neu. Doch Alexander Fleming betrachtete sich die Platten genauer. Er erkannte, dass im Umkreis der Pilz-Kolonien keine Bakterien wuchsen. Daraufhin stellte er die Hypothese auf, dass der Pilz einen Stoff herstellt, der das Wachstum der Bakterien hemmt. Fleming stellte einen Extrakt aus dem Schimmelpilz her und testete diesen. Er konnte seine Hypothese bestätigen: Der Extrakt hemmte das Wachstum verschiedener Arten von Bakterien sehr effizient. Flemings Pilz wurde später als Penicillium notatum identifiziert und der Stoff, der so wirksam gegen Bakterien war, wurde Penicillin genannt. Hier endet die oft erzählte Geschichte über die Entdeckung des Penicillins: Ein schusseliger Wissenschaftler entdeckt ein Wundermittel gegen schwerste Krankheiten und konnte damit Millionen von Menschenleben retten. Doch so ging die Geschichte nicht weiter. Tatsächlich kam Fleming mit seinen Forschungen nicht voran. Penicillin ist ein sehr empfindlicher Stoff: er ist instabil und deshalb schwer aufzureinigen. Deshalb gelang es Fleming nicht, das Antibiotikum in ausreichender Menge herzustellen, um seine Wirkung genauer zu untersuchen. Auch konnte er keine anderen Wissenschaftler davon überzeugen, dieses Thema aufzugreifen und ihm bei der Produktion und bei der Reinigung von Penicillin zu helfen. Er veröffentlichte seine Ergebnisse in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift. Dieser Artikel fand allerdings kaum Beachtung und Flemings Arbeiten waren bald vergessen. 

Die Wiederentdeckung
10 Jahre später fiel der Artikel durch Zufall in die Hände von Ernest Chain, einem Wissenschaftler deutsch-russischer Herkunft, der an der Universität Oxford arbeitete. Er war Mitglied in der Arbeitsgruppe von Howard Florey und das Ziel dieser Arbeitsgruppe war es, neue Wirkstoffe gegen Bakterien zu entdecken und weiterzuentwickeln. Die Wissenschaftler beschlossen, Penicillin in ihre Forschungen einzubeziehen. Ihnen gelang schließlich, was Alexander Fleming vergeblich versuchte hatte. Sie machten aus Penicillin das lebensrettende Medikament, das die Medizin revolutionieren sollte. Zunächst ging es darum, Penicillin in ausreichender Menge für weitere Untersuchungen herzustellen. Die Wissenschaftler waren bald in der Lage, die Wirkung von Penicillin in Versuchstieren zu testen. In einem berühmten Experiment infizierten sie acht Mäuse mit einer tödlichen Streptokokken-Dosis. Vier Mäuse erhielten Penicillin, vier Mäuse dagegen nicht. Am nächsten Tag waren die unbehandelten Mäuse tot, die mit Penicillin behandelten Mäuse waren gesund und munter. Die Wissenschaftler konnten so zum ersten Mal zeigen, dass Penicillin auch im lebenden Organismus bei der Bekämpfung von Bakterien hilft.  Der erste Mensch, der mit Penicillin behandelt wurde, war der Polizist Albert Alexander. Er hatte sich bei Gartenarbeiten eine kleine Wunde im Gesicht zugezogen. Die Wunde entzündete sich und führte zu lebensgefährlichen Abszessen im Gesicht, im Auge und in der Lunge. Die Wissenschaftler setzen einen Penicillin-Extrakt zur Behandlung ein und schon nach wenigen Tagen trat eine deutlichen Besserung ein. Doch dann kam die tragische Wendung. Das Penicillin-Vorräte gingen aus und in der kurzen Zeit konnte kein neues Penicillin mehr hergestellt werden. Der Polizist hatte einen schweren Rückfall und starb schließlich an seiner Infektion. Dennoch war die Wirksamkeit von Penicillin im Menschen bewiesen. Doch es blieb ein Problem: die Menge an produziertem Penicillin war viel zu gering, um es als Medikament in großem Maßstab einzusetzen. Um einen einzigen Patienten mit einer  Blutvergiftung zu behandeln, mussten die Wissenschaftler 2000 Liter Pilz -Kultur aufarbeiten, um genügend Penicillin zu gewinnen. Eine Produktion im industriellen Maßstab war nötig. Doch in Großbritannien war dies zu diesem Zeitpunkt nicht möglich. Der Zweite Weltkrieg wütete in Europa, deshalb waren die Ressourcen beschränkt und große Industrieanlagen nicht verfügbar.

Eine Medikament für die Massen
Die Wissenschaftler um Howard Florey setzten ihre Forschungen in den USA fort. Dort wurde Penicillin mittlerweile als möglicherweise kriegsentscheidenden Faktor betrachtet. In Kriegen starben die meisten Soldaten nicht an den direkten Wundfolgen, sondern an Wundinfektionen. Kriegsparteien, die ein Medikament gegen diese Infektionen haben, hätten einen sehr großen militärischen Vorteil gegenüber ihren Gegnern. Penicillin erhielt die höchste Dringlichkeitsstufe nach dem Manhattan Projekt, also der Entwicklung und dem Bau der Atombombe. Das Team um Howard Florey versuchte, die industrielle Produktion von Penicillin aufzubauen. Die bisher verwendeten Penicillium-Stämme produzierten viel zu wenig Antibiotika. Man machte sich auf die Suche nach einem besseren Pilz, der mehr Antibiotikum herstellte. Fündig wurde man schließlich auf einem örtlichen Gemüsemarkt. Dort kaufte eine Mitarbeiterin von Florey eine verschimmelte Zuckermelone. Der Pilz auf der Zuckermelone produzierte 200 mal mehr Penicillin als der von Fleming ursprünglich verwendete Pilz-Stamm. Durch weitere Optimierungen konnte schließlich eine tausendfach höhere Produktion erreicht werden. 

Die industrielle Produktion in den USA nahm schnell Fahrt auf. Am D-Day, der Landung der alliierten Truppen in der Normandie, konnten die alliierten Soldaten mit Penicillin versorgt werden. Die im Krieg aufgebauten Produktionsanlagen wurden nach dem Krieg weiter verbessert und für die zivile Produktion verwendet. Bereits 1945 konnte man in amerikanischen Apotheken Penicillin kaufen, ab 1946 war es als verschreibungspflichtiges Medikament auch in Großbritannien erhältlich. 

Penicillin wurde also doch noch zum Wundermittel, dass Millionen von Menschenleben rettete, wenn auch mit einiger Verzögerung. 1945 erhielten Alexander Flemming, Howard Florey und Ernest Chain den Nobelpreis für Medizin. In den Folgejahren wurden viele weitere Antibiotika identifiziert und in der Therapie eingesetzt. Über Jahrzehnte hinweg waren Antibiotika die wichtigsten und wirksamsten Medikamente bei der Behandlung von bakteriellen Infektionen. Auch in der heutigen Zeit sind sie unverzichtbar, auch wenn die Zahl der antibiotikaresistenten Bakterien immer mehr zunimmt. 

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