Viren und Wir (07): Paul Ehrlich und das erste Antibiotikum

Antibiotika sind Wunderwaffen im Kampf gegen Bakterien. Sie bekämpfen Bakterienzellen im Körper, ohne dabei die menschlichen Zellen zu schädigen. Dieses Konzept wurde von Paul Ehrlich vor über 100 Jahren erdacht. Und er war es auch, der das erste Antibiotikum entwickelte. Jahrzehnte vor der Entdeckung des Penicillins durch Alexander Fleming. Dieses erste Antibiotikum wirkte nur gegen eine einzige Krankheit, gegen die Syphilis. Dennoch war die Einführung des Medikaments ein medizinischer Durchbruch. Zu ersten Mal war es möglich, eine bakterielle Infektionskrankheit gezielt zu bekämpfen. Und wir betrachten noch ein weiteres Antibiotikum, das ebenfalls vor Penicillin zum Einsatz kam. Und Millionen von Menschenleben rettete. Es geht um die vergessenen Antibiotika Salvarsan und Sulfonamid.

Was hilft gegen Bakterien?
Bakterielle Infektionen waren über Jahrtausende hinweg eine ständige tödliche Bedrohung. Es gab kein wirksames Heilmittel zur Bekämpfung von Bakterien. Entweder das Immunsystem schaffte es, die Erreger zu vertreiben. Oder nicht, dann endeten bakterielle Infektionen nicht selten tödlich. Eine gezielte Bekämpfung war erst möglich, als man den Feind kannte. Die Erkenntnis, dass Bakterien, also mikroskopisch kleine Erreger, viele Krankheiten auslösen, setzte sich Ende des 19. Jahrhunderts durch. Nun wusste man wenigstens, wen man bekämpfen sollte. Wie konnte man Bakterienzellen im Körper bekämpfen, ohne die menschlichen Zellen zu schädigen? Der Mediziner und Forscher Paul Ehrlich entwickelte hierzu einen revolutionären Asnatz. Er war Experte für die mikroskopische Untersuchung von Zellen und Geweben. Dabei wurden unterschiedlichste Farbstoffe eingesetzt, um die Zellen besser unter dem Mikroskop sichtbar zu machen. Ehrlich testete unermüdlich neue Farbstoffe. Dabei stellte er fest, dass bestimmte Farbstoffe nur bestimmte Zellen anfärbten. Diese Erkenntnis war sehr hilfreich für die Mikroskopie. Doch Paul Ehrlich sah noch weitere Einsatzgebiete. Man bräuchte einen Farbstoff, der nur Bakterien anfärbt, aber keine menschlichen Zellen. Ein solcher Farbstoff sollte nur an Bakterien binden. An diesen Farbstoff könnte man dann einen giftigen Wirkstoff koppeln. Dieser Wirkstoff würde über den Farbstoff gezielt an Bakterien binden, nicht aber an menschliche Zellen. Das war eine geniale, geradezu revolutionäre Idee. Gemeinsam mit seinen Mitarbeitern versuchte er auf Basis dieser Überlegungen ein Medikament zu entwickeln. Als Wirkstoff wählte er das Arsen, ein hochgiftiges Element, sowohl für Bakterien als auch den Menschen. Dieses koppelte er an Farbstoffe und stellte eine Vielzahl chemischer Varianten her. Doch gegen welche Bakterien sollte das Medikament wirken, welche Krankheit sollte es bekämpfen? Ehrlich wählte eine der gefährlichsten Infektionskrankheiten der damaligen Zeit: Die Syphilis

Eine Geißel der Menschheit
Die Syphilis wird durch Bakterien verursacht und vor allem beim ungeschützten Geschlechtsverkehr übertragen. Um 1500 breitete sie sich in Europa aus, womöglich war sie von den Entdeckern Amerikas eingeschleppt worden. Über die nächsten fünf Jahrhunderte war sie eine tödliche Bedrohung. Es gibt gewisse Parallelen mit AIDS in den 1980er Jahren. In beiden Fällen eine unheilbare Geschlechtskrankheit, die langsam zum Tod führt. Und beide Krankheiten waren unheilbar. Wobei AIDS durch Viren und die Syphilis durch Bakterien ausgelöst wird. In manchen Gegenden Europas waren um 1900 10 bis 20 % der Erwachsenen mit dem Erreger der Syphilis infiziert. Im letzten Stadium der Erkrankung können alle Organe befallen sein. Besonders dramatisch für den Patienten war der Befall des Gehirns. Die Folgen waren Lähmungen, psychische Veränderungen bis hin zur Demenz, also dem Verfall der geistigen Fähigkeiten. Als einzig wirksame Therapie galt die Behandlung mit Quecksilber. Dieses Schwermetall unterdrückte zumindest eine zeitlang die typischen Syphilis-Symptome. Allerdings zu einem sehr hohen Preis. Die Quecksilber-Behandlung hatte schwerste Nebenwirkungen, unter anderem fielen die Haare und die Zähne aus. Syphilis war praktisch unheilbar.

Das erste Antibiotikum
Im Jahr 1905 wurde das Bakterium Treponema pallidum als Erreger identifiziert. Paul Ehrlich machte sich mit seinen Mitarbeitern daran, einen Arsen-beladenen Farbstoff zur Bekämpfung dieses Bakteriums zu finden. Das Team synthetisierte über 900 Arsen-gekoppelte Farbstoffe und testete deren Wirksamkeit im Tiermodell. Ohne Erfolg. Die Zweifel an der Strategie begannen zu wachsen. War der Ansatz vielleicht doch falsch? Doch dann kam der Durchbruch. Substanz 606 war im Tierversuch hochwirksam. Daraufhin wurde das Mittel an Syphilis-Patienten getestet, mit sehr guten Ergebnissen. Im Jahr 1910 kam das Medikament schließlich unter dem Produktnamen Salvarsan auf den Markt. Es wurde ein großer Erfolg. Besonders wirksam war es in den frühen Stadien der Krankheit. Bis zum Jahr 1928 konnte die Zahl der Syphilis-Fälle um zwei Drittel reduziert werden. Salvarsan war das weltweit erste Medikament, mit dem gezielt Bakterien bekämpft werden konnten. Es war ein großer medizinischer Durchbruch, die Strategie Paul Ehrlichs war aufgegangen. Seine Idee, mit Giftstoff-gekoppelten Wirkstoffen, gezielt schädliche Zellen zu bekämpfen und dabei gleichzeitig Körperzellen zu verschonen, funktionierte. Doch Salvarsan hatte auch große Nachteile. Die Dosis musste sehr genau eingestellt werden. Bei einer zu geringen Menge war es wirkungslos, eine Überdosierung konnte tödlich sein. Arsen ist auch für menschliche Zellen ein starkes Gift. Auch konnte man bei der Verabreichung leicht Fehler machen. Falls der Arzt hier nicht sorgfältig vorging, konnte das fatale Folgen für den Patienten haben. Zudem Salvarsan nur gegen eine einzige Krankheit wirkte. Doch es gab so viele andere lebensgefährliche bakterielle Infektionskrankheiten. Dennoch: Die Entwicklung und der Erfolg von Salvarsan war der Startschuss für die Entwicklung weitere Antibiotika. Viele Pharmafirmen machten sich auf die Suche. Erst nach 20 langen Jahren kam der nächste Durchbruch.

Der nächste Erfolg
Man teste möglichst viele synthetische Farbstoffe und irgendwann wird man ein neues Medikament gegen Bakterien finden. Das war die Strategie vieler Pharmafirmen in den Jahren nach Paul Ehrlichs Erfolg. Der Optimismus war groß und die Aussicht auf große Gewinne beflügelte die Pharma-Forscher. Doch Erfolge blieben aus. War Ehrlichs Syphilis-Medikament vielleicht doch nur ein Zufallstreffer gewesen? Viele Unternehmen gaben den Farbstoff-basierten Ansatz schließlich auf. Dabei wurden Medikamente zur Bekämpfung von Bakterien dringend benötigt. Schwere Infektionen waren nach wie vor unheilbar. Eine eigentlich harmlose Blasenentzündung oder eine Hautverletzung konnten sich zu einer Blutvergiftung entwickeln. Mit tödlichen Folgen. Ganz abgesehen von den lebensbedrohlichen Infektionskrankheiten: Cholera, Tuberkulose oder Diphtherie.Nach 20 Jahren erfolgloser Suche machte die Pharmafirma Bayer einen weiteren Anlauf. Sie baute eine Forschungsgruppe unter Leitung des Arztes Gerhard Domagk auf. Der Auftrag: Farbstoffe testen, Farbstoffe testen, Farbstoffe testen. Die Wissenschaftler testeten mehrere Tausend chemischer Substanzen. Fünf Jahre lang ohne Erfolg. Die Bayer AG bewies einen langen Atem, und das zahlte sich schließlich aus. Nach unzähligen erfolglosen Versuchen kam der Durchbruch. Ein knallroter, chemisch modifizierter Azo-Farbstoff zeigte sensationelle Ergebnisse im Tierversuch. Er war sehr wirksam bei der Bekämpfung von Infektionen mit Staphylokokken und Streptokokken. Der Wirkstoff war hochwirksam gegen verschiedene Bakterien und hatte keine großen Nebenwirkungen. Damit konnten z.B lebensgefährliche Lungenentzündungen oder Blutvergiftungen behandelt werden. Bayer brachte das Medikament im Jahr 1935 unter dem Namen Prontosil auf den Markt. Eine der ersten Patientinnen, die damit behandelt wurde, war Gerhard Domagks sechsjährige Tochter. Sie hatte sich aus Versehen mit einer verschmutzten Nadel in den Finger gestochen. Die Wunde entzündete sich, es entwickelte sich eine lebensgefährliche Blutvergiftung. Die Ärzte waren kurz davor, den Arm zu amputieren. Der Einsatz von Prontosil rettete ihren Arm und ihr Leben. Zum zweiten Mal hatte der von Ehrlich entwickelte Ansatz, Farbstoffe zu Bekämpfung von Bakterien zu nutzen, Erfolg. Oder eben auch nicht. Denn hier gab es eine ironische Wendung, denn Prontosil wirkte auf eine andere Art und Weise. Und davon war die Bayer AG alles andere als begeistert.

Schlechte Nachrichten für die Bayer AG
Bei der Untersuchung von Prontosil stieß das Team um Gerhard Domagk auf einen seltsamen Effekt. Das Medikament bekämpfte sehr gut Infektionen in den Versuchstieren. Doch es zeigte keinen Effekt auf Bakterien die außerhalb des Tieres in einer Kulturschale angezogen wurden. Wie konnte das sein? Wissenschaftler vom Pasteur-Institut in Paris konnten dieses Rätsel schließlich lösen. Prontosil war ein chemisch modifizierter Farbstoff. Im Versuchstier wurde Prontosil gespalten, erst dann wirkte es gegen die Bakterien. Deshalb war es in der Kulturschale wirkungslos, es fehlte die chemische Umsetzung. Es war nicht der Farbstoff, der antibiotisch aktiv war, sondern ein kleines Molekül, das vom Farbstoff abgespalten wurde. Dieses Molekül namens Sulfanilamid war eine gängige Chemikalie in der Textilindustrie. Dort war es bereits seit Jahrzehnten im Einsatz. Es gehört zur Gruppe der Sulfonamide. Von diesem Ergebnis war der Arbeitsgeber von Gerhard Domagk, die Bayer AG, alles andere als begeistert. Denn Sulfanilamid hatte die gleiche Wirksamkeit gegen Bakterien wie das von Bayer entwickelte Medikament Prontosil. Es war billig, leicht zu beschaffen und vor allem: Es konnte nicht patentiert werden, da es bereits seit Jahrzehnten bekannt war. Dank einer guten Marketing-Kampagne wurde Prontosil dennoch ein Verkaufsschlager. Gleichzeitig brachten viele andere Unternehmen Medikamente mit Sulfanilamid oder verwandten Sulfonamiden auf den Markt. Der Einsatz von Sulfonamiden war ein großer Fortschritt im Kampf gegen Bakterien. Viele einst unheilbare Krankheiten waren jetzt behandelbar. Dennoch war das Wirkspektrum des Medikaments relativ eng. Nur einige Bakterienarten konnten bekämpft werden. 

Das erste Breitband-Antibiotikum
Die Entdeckung von Penicillin war dann der endgültige Wendepunkt im Kampf gegen Bakterien. Das erste echte Breitbandantibiotikum. Penicillin war bereits im Jahr 1928 entdeckt worden, also sieben Jahre vor der Markteinführung von Prontosil. Doch erst in den 1940er Jahren sollte es zum Einsatz kommen. Vor gut 100 Jahren entwickelte Paul Ehrlich das erste Antibiotikum. Salvarsan wirkte zwar nur gegen eine Krankheit und hatte starke Nebenwirkungen; aber es war das erste Medikament gegen Bakterien überhaupt. Und es wurde durch eine rationale Forschungsstrategie gefunden. Mit der Idee, dass schädliche Zellen angegriffen werden, ohne dabei die normalen Körperzellen zu schädigen. Auch wenn der Farbstoff-basierte Ansatz danach wenige Erfolge zeigte, dieses Grundkonzept gehört bis heute zu den Leitideen bei der Entwicklung neuer Wirkstoffe. 

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