Viren und Wir (06): Diphtherie – Mit der passiven Impfung gegen den Würgeengel

Die Diphtherie war im 19. Jahrhundert gefürchtet. 50.000 Jungen und Mädchen starben in Deutschland jedes Jahr an dieser tödlichen Bedrohung. Bei Kindern im Alter von drei bis fünf Jahren war es die häufigste Todesursache. Eine Infektion begann mit Halsschmerzen und hohem Fieber. Der Hals schwoll an, das konnte man auch von außen sehen. Im Rachen bildeten sich weißlich-gelbe Beläge, die die Atemwege blockierten. Im weiteren Verlauf konnte der Kehlkopf anschwellen und das Atmen unmöglich machen. Der Patient erstickte, weshalb die Krankheit auch Würgeengel genannt wurde. Ende des 19. Jahrhunderts wurde eine erfolgreiche Therapie gegen die Diphtherie entwickelt, ein Meilenstein bei der Behandlung von Infektionskrankheiten. Zum ersten Mal war es möglich, Bakterien gezielt zu bekämpfen. Emil von Behring, Robert Koch und Paul Ehrlich hatten ihren Anteil daran.

Die Entdeckung der Ursache
In den 1880er Jahren wurden in den krankhaften Belägen Bakterien nachgewiesen. Diese wurden als Auslöser der Erkrankung ausgemacht. Ein weiterer Beleg für die Keimtheorie, die in diesen Jahren maßgeblich von den Mikrobiologen Robert Koch und Louis Pasteur entwickelt wurde. Sie besagt, dass Bakterien Krankheiten auslösen – und nicht schlechte faulige Luft, die bis dahin als Ursache galt. Bakterien befallen den Rachen und verursachen die beschriebenen Symptome. Doch etwas passte nicht ins Bild. Denn nicht nur der Rachen war betroffen, oftmals wurden auch andere Organe geschädigt, z.B. die Nieren oder das Herz. Wie war das möglich? Wie konnten Bakterien im Hals das Herz angreifen? Mikrobiologen um Louis Pasteur entwickelten eine Hypothese: Demnach produzieren die Bakterien einen Giftstoff, ein Toxin, dass in die Umgebung abgegeben wird und sich im Körper verteilt. Das Toxin greift dann die Organe an. Die Wissenschaftler konnten ihre Hypothese durch einen Versuch beweisen. Sie vermehrten die Bakterien in einem flüssigen Nährmedium. Dann gaben Sie die Bakteriensuppe durch einen feinen Filter. Die Bakterien wurden im Filter zurückgehalten. Die durchgetropfte Flüssigkeit war frei von Bakterien aber dennoch tödlich. Spritzte man diese Flüssigkeit in ein Versuchstier, starb es an den für die Diphtherie typischen Organschäden, obwohl keine Bakterien übertragen wurden. Sehr wohl aber das durch die Bakterien gebildete Toxin. Dies war viel kleiner als die Bakterienzellen und konnte durch den Filter hindurchtreten und gelang in die filtrierte Flüssigkeit. Auch für andere bakterielle Erkrankungen konnte in dieser Zeit gezeigt werden, dass von den Bakterien produzierte Toxine die typischen Symptome auslösen: z.B. bei der Cholera oder dem Wundstarrkrampf, auch Tetanus genannt. 

Die Entwicklung der Serumtherapie
Emil von Behring begann seine wissenschaftliche Karriere als Assistent des Mikrobiologen Robert Koch. Von Behring untersuchte die Wirkung des Diphtherie-Toxins auf Versuchstiere. Er entwickelte ein Verfahren zur Abschwächung des Toxins. In dieser Form konnte es in Versuchstiere gespritzt werden, ohne dass diese starben. Und er machte eine interessante Beobachtung: Die so behandelten Tiere waren von nun an immun gegen die Diphtherie. Dieser Schutzeffekt war zudem von einem Tier auf ein anderes Tier übertragbar. Hierfür entnahm von Behring Blut von einem immunisierten Tier. Er trennte das Blut in zwei Fraktionen auf: in die flüssigen Bestandteile, auch Serum genannt und in die Blutzellen. Dann spritzte er das Blutserum in ein an Diphtherie  erkranktes Tier. Mit durchschlagendendem Erfolg. Das Tier konnte dadurch geheilt werden, die Diphtherie bildete sich zurück. Erste Versuche an Menschen waren vielversprechend. Die Sterberate bei an Diphtherie erkrankten Kindern konnte halbiert werden. Gemeinsam mit Paul Ehrlich und anderen Wissenschaftlern entwickelte er dieses Verfahren weiter. Es ging vor allem darum, große Mengen des Serums herzustellen. Dies gelang schließlich durch die Verwendung von Pferden. Diese großen Tiere lieferten genug Serum, um es als Medikament im großen Maßstab einzusetzen. Im Jahr 1894 waren bereits 57 Pferde bei der Chemie-Firma Höchst im Einsatz. Und bis zum Ende des Jahres konnten über 75.000 Fläschchen des Serum verkauft werden. 

Die Bedeutung der Serumtherapie kann nicht überschätzt werden. Ende des 19. Jahrhunderts gab es keine Möglichkeit, eine Infektion mit Bakterien zu bekämpfen. Antibiotika sollten erst 50 Jahre später entdeckt werden. Entweder das Immunsystem des Patienten schaffte es aus eigener Kraft, die Bakterien zu vernichten. Oder eben nicht, dann endete die Erkrankung nicht selten tödlich. So wie für die 50.000 Kinder, die jährlich an den Folgen der Diphtherie starben. Die Serumtherapie war die erste erfolgreiche Therapie einer Infektionskrankheit überhaupt. Emil von Behring erhielt für seine lebensrettende Forschung im Jahr 1901 den Nobelpreis. Es war der erste Modellpreis für Medizin überhaupt. Neun Jahre später war Paul Ehrlich dran. Er erhielt den Nobelpreis für seine Erkenntnisse zur Funktionsweise des Immunsystems. 

Das Prinzip der passiven Impfung
Die Serumtherapie basiert auf dem Prinzip der passiven Impfung. Die genaue Funktionsweise war zu Zeiten Emil von Behrings noch unbekannt. In den nachfolgenden Jahrzehnten entdeckte man die Antikörper. Und damit die Waffen, die die Diphterie bekämpften. Bei der Diphterie machen nicht die Bakterien direkt krank. Sondern das von den Bakterien produzierte Toxin. Dieses Toxin wurde durch von Behring angereichert, abgeschwächt und dann in ein Pferd injiziert. Bei dem Toxin handelt es sich um ein Protein und es wird vom Immunsystem des Pferdes als Fremdstoff erkannt. Daraufhin werde Antikörper hergestellt. Diese y-förmige Proteine binden an die Toxinmoleküle – und machen sie unschädlich. Die Antikörper kann man aus dem Blut des Pferdes gewinnen. Dafür entnimmt man das Blut und trennt die Blutzellen vom Blutserum. Das Blutserum enthält alle löslichen Bestandteile des Blutes, auch die Antikörper. Das Serum mit den Antikörpern spritzt man dann einem an Diphterie erkrankten Menschen. Die Antikörper machen ihre Arbeit, sie spüren die Moleküle des Diphterie-Toxins auf, binden daran und machen das Toxin unschädlich. Die Krankheitssymptome verschwinden, die verbliebenen Diphterie-Bakterien werden abgetötet. Dieses Verfahren wird als Passive Impfung bezeichnet, weil das Immunsystem des Patienten nicht direkt an der Bekämpfung des Toxins beteiligt ist. Die Antikörper wurden ja vom Pferd hergestellt, dessen Immunsystem war aktiv. Das Immunsystem des Diphteriepatienten war dagegen passiv, es wurden direkt die fertigen Pferde-Antikörper gespritzt. 

Ein Nachteil der passiven Impfung ist, dass kein dauerhafter Immunschutz aufgebaut wird. Die Patienten können nach der Serumtherapie erneut an Diphterie erkranken. Eben weil das eigene Immunsystem nicht an der Bekämpfung beteiligt war.  Trotz dieses Nachteils wird das Prinzip der passiven Impfung auch noch heute verwendet, z.B. bei Therapie von Schlangenbissen. Hier erhalten die Patienten ein Antiserum gegen das jeweilige Schlangengift. Dieses Antiserum enthält spezifische Antikörper, die das Schlangengift im Körper unschädlich machen. Die passive Impfung kommt auch bei Patienten zum Einsatz, die kein funktionierendes Immunsystem mehr haben, also nicht selbst Antikörper herstellen können oder wenn es schnell gehen muss. Die Herstellung körpereigener Antikörper dauert einige Tage, das kann bei lebensgefährlichen Infektionen zu lange sein. Deshalb gibt man direkt die Antikörper als Medikament. Und schließlich wird die Serumtherapie, also eine passive Impfung, auch noch heute bei der Bekämpfung der Diphtherie eingesetzt, in Kombination mit einem Antibiotikum. Das Antibiotikum zerstört die Diphterie-Bakterien und die Antikörper machen die Toxin-Moleküle unschädlich. Die Serum-Antikörper werden heute übrigens immer noch in Pferden hergestellt. Wir vor 120 Jahren.

Die Weiterentwicklung der Impfung – Von passiv zu aktiv
Diphterie kann heute gut behandelt werden, wobei es nach wir vor eine gefährliche Erkrankung ist. Einer von 10 Diphtheriekranken überlebt nicht. Zum Glück kommt die Erkrankung in Deutschland praktisch nicht mehr vor. Und das ist auch Emil von Behring zu verdanken. Denn 20 Jahre nach der Serumtherapie entwickelte er ein Verfahren zur aktiven Impfung. Dabei wird eine abgeschwächte Form des Diphtherie-Toxins direkt in den Patienten gespritzt. Bei dieser Art der Impfung wird das Immunsystem aktiv. Es bildet Antikörper Gedächtniszellen. Damit ist der Mensch über viele Jahre vor eine Diphterie-Erkrankung geschützt. Denn sobald die Diphterie-Bakterien in den Körper eindringen, wird das von Ihnen produzierte Toxin durch körpereigene Antikörper unschädlich gemacht. und die Bakterien werden vernichtet. Das von Behring entwickelte Verfahren musste in den Folgejahren noch optimiert werden, bevor es flächendeckend eingesetzt werden konnte. Dank dieser Impfung zählt man in Deutschland weniger als 10 Diphterie-Fälle pro Jahr. Kinder müssen nicht mehr ersticken, Der Würgeengel ist besiegt. Kein Vergleich zu Zeiten als jährlich 50.000 Kinder daran starben. Wobei dieser Erfolg eine hohe Impfquote von über 90 % voraussetzt. Fällt dieser Wert, dann steigen auch die Fallzahlen wieder deutlich an. 

Die Geschichte der Diphterie-Behandlung ist aus verschiedenen Gründen eine besondere. Es war die erste erfolgreiche Therapie einer Infektionskrankheit überhaupt. Und in dieser Geschichte kommen viele bedeutende Wissenschaftler vor. Louis Pasteur und Robert Koch, die die moderne Mikrobiologie begründeten und damit die Bekämpfung von Infektionskrankheiten erst möglich machten. Paul Ehrlich, der maßgeblich bei der Erforschung des Immunsystems mitwirkte. Er legte den Grundstein für die Entdeckung und Erforschung von Antikörpern. Außerdem entwickelte er das Konzept der Chemotherapie, also der gezielten Bekämpfung von Krankheiten durch spezifische Wirkstoffe. Und auch an der Entwicklung von Impfstoffen hatte er maßgeblichen Anteil. Das nach ihm benannte Paul-Ehrlich-Institut ist heute unter anderem für die Zulassung neuer Impfstoffe zuständig. Und schließlich Emil von Behring, der nicht nur ein brillianter Wissenschaftler sondern auch ein begabter Geschäftsmann war. Und einer der Wegbereiter für die pharmazeutischen Industrie in Deutschland.

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