Viren und Wir (05): Louis Pasteur und die erste Impfung

Es klingt wie ein Rezept aus der Hexenküche: Man nehme das Rückenmark eines mit Tollwut infizierten Kaninchens. Das lässt man für 14 Tage an der Luft trocknen. Anschließend reibt man es klein, verrührt es mit Flüssigkeit und füllt das Gemisch in eine Spritze. Und dieses Gemisch spritzt man in den Körper eines 9-jährigen Jungen. Gruselig? Dabei handelt es sich hier um ernsthafte Wissenschaft. Genauer gesagt um einen Durchbruch bei der Entwicklung von Impfstoffen. Dieses Experiment fand 1885 in Paris statt. Es wurde vom großen Mikrobiologen Louis Pasteur durchgeführt und er rettete damit das Leben des 9-jährigen Jungen Joseph Meister. Und so abstrus sich das Verfahren anhört, es war wissenschaftlich durchdacht. Denn es beschäftigte sich mit einem der Grundprobleme bei der Entwicklung von Impfstoffen. Wie kann man einen lebensgefährlichen Krankheitserreger so verändern, dass man ihn als harmlosen, aber lebensrettenden Impfstoff einsetzen kann?

Das Prinzip der Impfung
Impfungen gehören zu den größten medizinischen Errungenschaften. Mit keinem anderen Verfahren kann man einen lebenslangen Schutz vor tödlichen Krankheiten erreichen. Und kein anderes Verfahren hat wahrscheinlich so viele Menschenleben gerettet. Dabei nutzt man eine natürliche Funktion des Immunsystems. Nachdem man eine Infektionskrankheit überstanden hat, ist der Körper immun gegen diese Erkrankung. Bei vielen Erkrankungen ist dies der Fall. Natürlich kann man keine Person mit einem möglicherweise lebensgefährlichen Erreger infizieren, nur um dadurch eine Immunität auszulösen. Schließlich könnte die Person an der Erkrankung sterben oder zumindest Schäden davontragen. Deshalb werden in Impfstoffen abgeschwächte Erreger eingesetzt. Sie machen die geimpften Personen nicht krank. Dennoch werden die Erreger vom Immunsystem bekämpft und es kommt zu einer Immunreaktion. Dabei werden Antikörper gebildet, die die Erreger unschädlich machen. Außerdem bilden sich Gedächtniszellen, die bei Bedarf schnell in Antikörperfabriken umgewandelt werden können. Nach einigen Wochen hat sich die Immunität ausgebildet. Im Blut findet man nun Antikörper gegen die Erreger. Sobald das Virus oder das Bakterium in den Körper gelangt, kann es unschädlich gemacht werden. Außerdem können bei Bedarf schnell weitere Antikörper produziert werden. Damit kann sich der Erreger nicht ausbreiten und es kommt zu keiner Erkrankung. Eine solche Immunität kann ein Leben lang anhalten, bei bestimmten Krankheiten muss allerdings nach einer bestimmten Zeit erneut geimpft werden.
Ein Impfstoff muss schier Unmögliches leisten. Erstens: Er soll ungefährlich sein. Zweitens: Er soll den tatsächlichen Krankheitserreger imitieren, also eine gefährliche Infektion vorspielen, damit eine Immunreaktion ausgelöst wird. Diese beiden Eigenschaften widersprechen sich natürlich. Umso spannender ist die Frage, wie man einen Impfstoff entwickeln kann, der beide Eigenschaften in sich vereint: ungefährlich und dennoch gefährlich genug.
Stell dir vor, ein Polizist in der Ausbildung soll Schießen lernen, um sich im Notfall gegen Verbrecher verteidigen zu können. Man könnte das sehr realistisch gestalten: Man stellt dem Polizisten einen Verbrecher mit Waffe gegenüber, und beide schießen los.  Das würde den Polizisten vielleicht sehr gut auf einen späteren Einsatz vorbereiten – wenn er es denn überlebt. Oder man gestaltet es völlig ungefährlich: Der Polizist schießt auf eine Zielscheibe aus Pappe. Ohne Schaden für den Polizisten, aber was hat das noch mit einem tatsächlichen Einsatz zu tun? Bei der Entwicklung von Impfstoffen hat man auch die Wahl zwischen zwei Extremen: Entweder direkt den Krankheitserreger verwenden – das geht natürlich nicht. Oder einen vollständig abgeschwächten und möglicherweise wirkungslosen Impfstoff verwenden. Der Impfstoff sollte sich irgendwo dazwischen bewegen. Ausgangspunkt bei der Entwicklung ist immer der ursprüngliche Krankheitserreger. Wie kann man daraus einen ungefährlichen, aber wirksamen Impfstoff herstellen?

Abgeschwächte Erreger
Gehen wir zurück in die Hexenküche. Das Rückenmark eines mit Tollwut infizierten Hasen wurde zwei Wochen lang getrocknet, dann in den Jungen als Impfstoff gespritzt. Der Junge, Joseph Meister, war zuvor von einem tollwütigen Hund gebissen worden. Und dabei könnte die Krankheit auf ihn übertragen worden sein. Die Tollwut ist eine sehr seltene, grausame Krankheit und endet immer tödlich. Sie wird durch Viren ausgelöst, die das Nervensystem angreifen und es zerstören. Louis Pasteur hatte sein Impfverfahren zunächst erfolgreich an Hunden getestet. Er verwendete das Rückenmark eines infizierten Hasen, da es zum Nervensystem gehört und deshalb voller Tollwuterreger war. Und das Trocknen des Rückenmarks schwächte die Erreger offenbar ab. Schließlich erkrankten weder die Hunde noch der Junge an Tollwut. Aber sie waren in der Folge immun, der Rückenmark-Extrakt löste folglich eine Immunreaktion aus. Antikörper wurden gebildet und bekämpften das Virus.
Viele erfolgreiche Impfstoffe enthalten abgeschwächte Viren, auch wenn die Verfahren zur Abschwächung heute etwas anders aussehen. Wie kann man vorgehen? Eine Möglichkeit ist die Verwendung von Viren, die mit dem Krankheitserreger eng verwandt sind, und z.B. in anderen Tieren vorkommen. Ein klassisches Beispiel ist die Verwendung von Kuhpocken als Impfstoff, um Personen gegen menschliche Pocken zu impfen. Die Kuhpocken sind relativ ungefährlich, lösen aber eine Immunreaktion aus, die zu einer Immunität auch gegen menschliche Pockenviren führt. Dieses Verfahren wurde bereits im 18. Jahrhundert durch den britischen Arzt Edward Jenner eingeführt. Danach stagnierte die Entwicklung neuer Impfstoffe. Erst hundert Jahre später gaben die Arbeiten von Louis Pasteur den Startschuss für die Entwicklung vieler weiterer Impfstoffe.

Impfstoffe aus der Zellkultur
Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde Zellkulturen in der Impfstoffentwicklung eingesetzt. In einer Zellkultur lässt man menschliche Zellen außerhalb des Körpers in Kulturschalen wachsen, ähnlich wie Bakterien auf einer Petrischale. Diese Zellen infiziert man dann z.B. mit Masernviren. Die Masernviren dringen in die Zellen ein, vermehren sich und werden freigesetzt. Mit den freigesetzten Viren infiziert man wiederum Zellen in Zellkultur, und so weiter. Diesen Vorgang wiederholt man sehr oft. Am Ende erhält man Viren, die sehr gut an die Zellen in der Zellkultur angepasst sind. Dort können sich die Viren optimal vermehren, aber nicht mehr im menschlichen Körper. Die Zellkultur ist eine künstliche, unnatürliche Umgebung und hat wenig zu tun mit Zellen im menschlichen Körper.
Durch dieses Verfahren kann man Viren erzeugen, die sich kaum noch im menschlichen Körper ausbreiten können und deshalb auch keine Erkrankung auslösen. Aber trotzdem kommt es zu einer Immunreaktion im Körper. Die Erzeugung von Impfviren durch die Verwendung von Zellkulturen war sehr erfolgreich. So konnten z.B. Impfstoffe gegen Masern, Röteln, Windpocken, Mumps und Kinderlähmung hergestellt werden.
Durch dieses Verfahren wurden auch Grippeviren erzeugt, die optimal bei kühleren Temperaturen wachsen. Hierfür hat man Grippeviren über viele Passagen hinweg in Zellkultur bei niedrigen Temperaturen vermehrt. Diese Grippeviren werden als Impfviren eingesetzt, da sie sich kaum noch bei höheren Temperaturen, also bei Körpertemperatur, vermehren können. Wie kann man sich diese Abschwächung durch vielfache Zellkulturpassagen vorstellen? Hier wirken Evolutionsmechanismen. Bei der Virusvermehrung kommt es häufig zu Mutationen, also Erbgutveränderungen. Betrachten wir als Beispiel 1000 Grippeviren. Jedes einzelne Virus hat verschiedene Mutationen. Die meisten Mutationen haben negative Auswirkungen. 980 Grippeviren können vielleicht gar nicht mehr vermehrt werden. 18 können sich normal vermehren, und zwei können sich zufällig nur bei kühleren Temperaturen vermehren. Im Körper hätten diese beiden Viren keine Chance, in der kühlen Zellkultur umso mehr. Sie werden sehr stark vermehrt, die anderen 18 normalen Viren dagegen kaum. Man isoliert die neuen Viren und gibt sie erneut auf eine Zellkultur bei kühlen Temperaturen. Wiederum vermehren sich die Viren am stärksten, die zufällig durch Mutationen an diese Bedingungen besser angepasst sind. Nach vielen Passagen hat man Grippeviren gezüchtet, die kaum noch mit den Temperaturen im Körper klarkommen. Die idealen Impfviren: Nicht mehr gefährlich, aber gerade noch infektiös genug, um eine Immunreaktion auszulösen.
Hier wird ein Prinzip der Evolution deutlich. Mutationen entstehen nicht als Reaktion auf die Umweltbedingungen, sondern fortwährend und zufällig. Und es können sich die Lebewesen oder Viren am besten vermehren, die zufällig besser an die Umweltbedingungen angepasst sind. Viren, die durch zufällige Mutationen besser an kühle Temperaturen angepasst sind, hätten keine Chance im menschlichen Körper. Aber in der Zellkultur bei niedrigen Temperaturen setzen sie sich gegen alle anderen Viren durch.

Lebend- oder Totimpfstoff?
Betrachten wir die Vorteile und Nachteile der abgeschwächten Viren. Abgeschwächte Viren kann man erzeugen, in dem man die ursprünglichen Krankheitserreger über viele Generationen in einer körperfremden Umgebung vermehrt. Entweder in einem anderen Tier oder in Zellkultur. Dadurch vermehrt man Viren, die an die neuen Bedingungen angepasst sind und sich dafür nicht mehr gut im menschlichen Körper vermehren können. Der Vorteil liegt auf der Hand. Das Immunsystem bekommt es mit funktionierenden Viren zu tun, auch wenn sie keine wirkliche Gefahr darstellen. Dadurch kann eine starke Immunreaktion ausgelöst werden und damit ein langanhaltender Impfschutz. Wir können das auf das Polizei-Beispiel übertragen. Die Polizeischüler sollen schießen lernen. Man möchte ihnen keine echten Verbrecher mit scharfen Waffen gegenüberstellen. Zu gefährlich. Man könnte echte Verbrecher nehmen, statt scharfer Waffen bekommen aber alle nur Luftpistolen. Ein Treffer tut vielleicht weh, aber gefährlich ist es nicht. Und doch ist die Situation recht nahe an der Realität. Doch was, wenn die Verbrecher nicht mitspielen und sich scharfe Waffen besorgen? Hier liegt auch der Nachteil der abgeschwächten Erreger.
Es sind nach wie vor funktionierende Viren und in seltenen Fällen könnten sie doch die Krankheit auslösen. Deshalb verzichtet man heute größtenteils auf Lebendimpfstoff, also abgeschwächte Erreger. Stattdessen verwendet man Totimpfstoff. Das können komplette Viren sein, die durch eine chemische Behandlung zerstört worden sind. Oder es sind einzelne Proteine eines Virus, die gentechnisch hergestellt werden können. Diese Totimpfstoffe sind ungefährlich. Sie lösen auch eine Immunreaktion im Körper aus, aber oftmals fällt sie schwächer aus als bei Lebendimpfstoffen. Deshalb werden in den Impfstoff Substanzen gemischt, die das Immunsystem zusätzlich anregen. Oder die Impfung muss in bestimmten Abständen wiederholt werden, da kein lebenslanger Schutz ausgebildet wird.

Der Junge Joseph Meister hat seine Impfung übrigens gut überstanden und er ging in die Geschichte ein als erster Mensch, der gegen die Tollwut geimpft worden ist. Er blieb Louis Pasteur sein Leben lang verbunden. Bis zu seinem Tod war er Hausmeister im Institut Pasteur in Paris. Dieses von Louis Pasteur gegründete Institut ist bis zum heutigen Tag eine renommierte und weltweit anerkannte Forschungseinrichtung zur Untersuchung und Bekämpfung von Krankheitserregern.

Zur Podcastfolge (mit Quellenangaben)

Schreibe einen Kommentar