Mutationen, also Veränderungen in der DNA, sind gefürchtet. Schließlich sind Sie die Ursache vieler Erbkrankheiten. Eine einzige Veränderung der Basenabfolge kann zu lebenslangem Leid führen. Beispiele sind Krankheiten wie die Sichelzellanämie, Mukoviszidose, Chorea Huntington, um nur einige zu nennen. Auch viele andere Erkrankungen werden durch Mutationen ausgelöst. Doch dieser Blick auf die gefährlichen Auswirkungen von Mutationen ergibt ein verfälschtes Bild. Denn die meisten Mutationen in der DNA des Menschen haben gar keine Auswirkungen. Und einige wenige haben sogar positive Effekte. Eine davon betrachten wir heute genauer. Denn diese Mutation ermöglicht vielen Menschen den unbeschwerten Genuss von Milcheis, Sahnetorten und Co.
Zur Podcastfolge
Wer hat eine Mutation?
Die Rede ist von der Laktosetoleranz. Diese Stoffwechselveränderung betrifft ca. 35 % der Weltbevölkerung, und sie wird durch eine Mutation ausgelöst. Und spätestens jetzt sollte man irritiert sein. Diese Stoffwechselstörung heißt doch nicht Laktosetoleranz, sondern LaktoseINtoleranz. Jeder kennt in seinem Bekanntenkreis Leute, die sie haben. Oder vielleicht ist man selbst betroffen. Die Symptome sind bekannt. Nachdem man Milchprodukte gegessen oder getrunken hat, kann es zu Bauchschmerzen, Blähungen, Erbrechen und Durchfall kommen. Das liegt am Milchzucker, auch Laktose genannt. Diese Störung kommt relativ selten vor und die meisten Menschen können ohne Reue Sahnetorte, Milcheis und Co verzehren. Wer hat jetzt hier eine Mutation? Eben genau die Menschen, die als Erwachsene problemlos Milch, genauer gesagt Laktose vertragen. Denn normal ist das nicht: Alle anderen Säugetiere können Laktose nur im Kindesalter verwerten. Natürlicherweise kommen Säugetiere nur durch die Muttermilch in Kontakt mit Milch, danach nicht mehr. Das gilt genauso für das Säugetier Mensch: 65 % aller Menschen sind laktoseintolerant. Das ist der Normalzustand, sozusagen der Natur entsprechend. Und die restlichen 35 % vertragen Milch auch im Erwachsenenalter. Wobei diese Verteilung von Weltregion zu Weltregion sehr verschieden ist. In Nordeuropa sind über 90% aller Menschen laktosetolerant. In Asien dagegen sind über 90% der Menschen laktoseINtolerant, wie auch in den meisten anderen Weltregionen.
Der Weg der Laktose
Betrachten wir zunächst den Weg der Laktose in einem laktosetoleranten Menschen: Laktose ist ein sogenannter Zweifachzucker. Zwei Zuckermoleküle sind miteinander verbunden, einmal Glukose, also Traubenzucker und einmal Galaktose. Die Laktose kommt über den Magen in den Zwölffingerdarm, dem ersten Abschnitt des Dünndarms. Dort ist das Enzym Laktase, und die Laktase spaltet den Zweifachzucker Laktose in seine Bestandteile: Glukose und Galaktose. Die Zuckermoleküle werden über die Darmwand aufgenommen, gelangen ins Blut, zu den Körperzellen und werden zur Energiegewinnung abgebaut. So laufen die Vorgänge bei allen Menschen bis zum Kleinkindalter ab. Bei laktosetoleranten Menschen funktioniert das ein Leben lang, aber was geschieht bei laktoseintoleranten erwachsenen Menschen? Bei ihnen gelangt die Laktose auch über den Magen in Dünndarm. Aber dort fehlt das Enzym Laktase.
Es wird nicht mehr hergestellt, wie auch in keinem anderen erwachsenen Säugetier. Die Laktose wird deshalb nicht gespalten und kann deshalb nicht über die Darmwand aufgenommen werden. Stattdessen wandern die Laktose-Moleküle weiter vom Dünndarm in den Dickdarm. Und dort finden sich dankbare Abnehmer. Der Dickdarm enthält viele verschiedene Bakterien, die die Laktose abbauen und als Energiequelle nutzen. Dabei kommt es zu Gärungsprozessen und in der Folge zu Gasbildung. Unter anderem Wasserstoff, Methan und CO2. Das führt schließlich zu den bekannten Symptomen: Blähungen, Bauchschmerzen und so weiter. Der entscheidende Unterschied ist das Enzym Laktase: Ist Laktase vorhanden, wird der Milchzucker im Dünndarm abgebaut und in die Blutbahn aufgenommen. Ohne Laktase gelangt die Laktose in den Dickdarm und richtet dort Unheil an. Ursprünglich waren alle Menschen laktoseintolerant. Als Erwachsene stellten sie keine Laktase mehr her. Und dann kam es zu einer Mutation, und diese Mutation hat zur Folge, dass einige Menschen lebenslang Laktase bilden können. Der Bauplan zur Herstellung der Laktase befindet sich im sogenannten LCT-Gen. Das LCT-Gen wird nur bis zu einem Alter von ungefähr 4 Jahren abgelesen. Danach ist das Gen abgeschaltet, es wird kein Bauplan mehr kopiert und damit keine Laktase mehr hergestellt. Die Mutation sorgt nun dafür, dass das Gen weiterhin abgelesen wird. Diese DNA-Veränderung ist einem Bereich in der Nähe des LCT-Gens. Dieser DNA-Bereich ist ein sogenannter Enhancer. Er ist an der Steuerung des LCT-Gens beteiligt. Eine einzelne Basenveränderung im Enhancer hat zur Folge, dass das Gen weiterhin abgelesen wird. Der genaue Mechanismus ist noch unklar. Wenn das Gen weiterhin abgelesen wird, wird auch weiterhin Laktase produziert und der Mensch ist laktosetolerant.
Die Mutation bringt Vorteile
Warum hat sich diese Mutation in manchen Teilen der Welt, wie zum Beispiel in Europa, durchgesetzt, in anderen Gegenden dagegen nicht? Diese Frage lässt sich aus evolutionsbiologischer Sicht beantworten. Menschen mit dieser Mutation hatten einen Überlebensvorteil, sie konnten sich erfolgreicher fortpflanzen und hatten entsprechend mehr Nachkommen. So konnte sich die Mutation nach und nach ausbreiten. Oder eben auch nicht, denn offenbar brachte sie Menschen in anderen Weltregionen keinen Überlebensvorteil. Wovon könnte dieser Vorteil abhängen? Die Mutation sorgt dafür, dass Menschen ein Leben lang Milch vertragen können. Milch ist ein sehr wertvolles Lebensmittel, es versorgt den Körper optimal mit Nährstoffen. Menschen, die Milch als zusätzliche Nahrungsmittel verwenden können, haben einen Vorteil, besonders während Missernten und Hungersnöten. Aber eben nur, wenn Milch auch verfügbar ist. Und das war sie in der meisten Zeit der Menschheitsgeschichte nicht. Die Menschen lebten als Jäger und Sammler und hatten keinen Zugang zu Milch, außer natürlich als Säugling. Die Mutation war damals vielleicht schon in einigen Menschen vorhanden, aber sie brachte weder Vorteil noch Nachteil. Dann wurden die Menschen in einigen Weltregionen sesshaft und betrieben Landwirtschaft und Viehzucht. Vor ca. 8000 Jahren konnten die Menschen über Schafe und Kühe zum ersten Mal größere Mengen Milch herstellen. Doch sie war nicht genießbar, da die Menschen ja alle laktoseintolerant waren. Eine Möglichkeit war die Käseherstellung. Dabei wird die Laktose zum Teil abgebaut und Milch in dieser Form war genießbar. Noch besser wäre es, Milch auch direkt trinken zu können. Und das konnten Menschen mit der Mutation. Bisher hatte die DNA-Veränderung keinen Vorteil gebracht, jetzt aber umso mehr.
Menschen mit dieser Mutation hatten bessere Überlebenschancen und mehr Nachkommen. Daraufhin breitete sich die Mutation vor allem in Mittel- und Nordeuropa stark aus. Deshalb sind die meisten Menschen heute in dieser Region laktosetolerant. Warum kam es nicht zu ähnlichen Entwicklungen in anderen Weltregionen? Vor allem, weil es dort keine Nutztiere zur Milchherstellung gab. Ohne Milch gibt es auch keinen Selektionsvorteil und damit keine Verbreitung der Mutation in der Bevölkerung. Hier wird ein wichtiges Grundprinzip deutlich: Mutationen entstehen immer zufällig. Ob sie Vorteile, Nachteile oder keinen Effekt bringen, hängt von den jeweiligen Umweltbedingungen ab. Die Mutation hatte zunächst keinerlei Effekt, erst als Milch als Lebensmittel verfügbar wurde, brachte die Mutation Selektionsvorteile und breitete sich in der Bevölkerung aus. Zur letzten Frage: Warum brachte der Milchkonsum vor allem in Nordeuropa besonders große Vorteile?
Vitamin D, Sonne und Milch
Natürlich kann man in Nachhinein keinen endgültigen Beweis finden, warum sich die Laktose-Toleranz in Nordeuropa so stark ausgebreitet hat. Doch es gibt verschiedene Theorien. Die naheliegendste wurde bereits genannt: Milch ist ein wertvolles Lebensmittel und wer sie gut verträgt hat einen Vorteil, besonders bei Missernten und Hungersnöten. Es gibt weitere Vorteile von Milch: Sie wird schneller nachgebildet als Fleisch und man kann sie fortwährend gewinnen und muss dafür das Tier nicht töten. Zudem kann man die Milch sofort trinken und muss sie nicht aufwendig zubereiten. Das sind allgemeine Vorteile, nun zu einem Aspekt, der vor allem in Nordeuropa relevant gewesen sein könnte: Vitamin D. Dieses Vitamin kann zum einen über die Nahrung aufgenommen werden, das meiste Vitamin D stellt der Körper aber selbst her. Er produziert zunächst eine Vorstufe, die dann mit UV-Licht in Vitamin D umgewandelt wird. Der Mensch muss Kontakt zum Sonnenlicht haben, damit genug UV-Licht auf die Haut trifft und Vitamin D hergestellt werden kann. Vitamin-D-Mangel führt zu einer Beeinträchtigung des Immunsystems, Viren oder auch Bakterien können nicht so gut bekämpft werden. Sonnenlicht gibt es in Nordeuropa deutlich weniger als z.B. in Afrika oder im nahen und mittleren Osten, wo die Landwirtschaft und Viehaltung zunächst entstand. Die menschlichen Siedler, die sich in Nordeuropa niederließen, litten wahrscheinlich an einem Vitamin-D-Mangel. Und Vitamin D ist nicht nur für das Immunsystem notwendig, sondern auch für die Aufnahme von Calcium aus der Nahrung. Die Siedler hatten womöglich Vitamin-D-Mangel und Calcium-Mangel. Und beide Nährstoffe liefert die Milch. Die Milch könnte also einen deutlichen Überlebensvorteil geboten haben, besonders für Menschen in Nordeuropa. Wobei sich auch in bestimmten Regionen Afrikas die Laktosetoleranz ausgebreitet hat. Dort trifft die Vitamin-D-Hypothese eher nicht zu.
Übrigens gingen Wissenschaftler bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts davon aus, das Laktosetoleranz der natürliche Zustand ist, Laktoseintoleranz dagegen ein krankhafter Zustand. Die Wissenschaftswelt war eben sehr europäisch geprägt, deshalb wohl diese Fehleinschätzung. Erst nach und nach wurde klar, dass es genau umgekehrt ist. Laktoseintoleranz ist normal und die Laktosetoleranz die Folge einer Mutation. Einer Mutation allerdings, die Gutes bewirkt.
Zur Podcastfolge
Podcastfolgen zum Nachlesen