Viren und Wir (04): Lady Montagu und der Kampf gegen die Pocken

Die Pocken sind seit gut 40 Jahren ausgerottet, dank einer globalen Impfkampagne. Davor war sie die tödlichste Infektionskrankheit überhaupt. Über die Jahrhunderte forderte sie mehr Todesopfer als die Pest. Der englische Landarzt Edward Jenner gilt als Erfinder der ersten Impfung. Das von ihm entwickelte Verfahren war ein Durchbruch bei der Bekämpfung dieser tückischen Krankheit. Doch wie bei allem wissenschaftlichen und medizinischen Durchbrüchen ist nicht eine einzige Person dafür verantwortlich. Immer ist eine Vielzahl von Personen beteiligt, und immer haben andere Wissenschaftler wichtige Vorarbeiten geleistet. Im Fall der Pockenimpfung entwickelte Jenner ein bereits etabliertes Verfahren weiter und machte es vor allem sicherer für die Patienten. Den Grundstein für den Einsatz der Pockenimpfung in Europa legte vor 300 Jahren eine andere Person: Lady Mary Montagu. Sie musste gegen erhebliche Widerstände ankämpfen. Und setzte sich schließlich doch durch …

Eine gefürchtete Krankheit
Heute haben die Pocken ihren Schrecken verloren. Manch einer verwechselt sie mit den harmlosen Windpocken. Dabei waren die Pocken über Jahrhunderte hinweg eine der gefährlichsten Infektionskrankheiten überhaupt. Allein im 20. Jahrhunderts fielen ihr schätzungsweise 300 bis 500 Millionen Menschen zum Opfer. Die Pocken wurden durch ein Virus ausgelöst. Eine Infektion begann zunächst recht harmlos mit Erkältungssymptomen und Fieber. Dann kam ein Ausschlag hinzu, der sich über den ganzen Körper ausbreitete. Die Pusteln wurden größer und füllten sich mit Eiter. Das Fieber stieg immer weiter und die Symptome verstärkten sich. Einer von vier Erkrankten starb an den Pocken. Die Überlebenden waren häufig durch Pockennarben im Gesicht und am Körper grausam entstellt, manche verloren ihr Augenlicht. Die Pocken waren ein ständiger Begleiter der Menschheit. Immer wieder kam es zu Ausbrüchen. Und die Krankheit ging quer durch alle Schichten. Von den Ärmsten der Gesellschaft bis zu Adeligen und Königen. Pockennarbige Menschen gehörten zum alltäglichen Bild. Diese Menschen waren entstellt, doch sie waren mit dem Leben davongekommen Und für den Rest ihres Lebens immun gegen die Pocken. 

Auch die Familie der jungen Adeligen Lady Mary Wortley Montagu wurde von den Pocken heimgesucht. Zunächst traf es ihren Bruder. Er starb im Alter von nur 21 Jahren. Zwei Jahre später erkrankte sie selbst – und überlebte. Sie erblindete nicht, doch ihr Gesicht war von Pockennarben gezeichnet. Ihren Lebenswillen und ihre Energie verlor sie nicht. Ihr Mann wurde im Jahr 1717 als Botschafter ins osmanische Reich geschickt, nach Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. Lady Mary begleitete ihn. Doch Sie war nicht nur die Frau an seiner Seite. Sie war gebildet, selbstbewusst und verfasste Gedichte und schrieb bissige-satirische Texte.

Sie tauchte ein in das gesellschaftliche Leben Konstantinopels, war fasziniert und begeistert von dieser fremden Welt. Vieles war neu und ungewohnt. Etwas viel ihr besonders auf. Besser gesagt ihr viel besonders auf, dass etwas fehlte. Menschen mit Pockennarben. In England des 18. Jahrhunderts waren Menschen mit Pockennarben ein alltäglicher Anblick. Immer wieder gab es neue Krankheitswellen. Warum blieben viele Menschen in Konstantinopel und im osmanischen Reich davon verschont?

Die Prozedur der Variolation
Lady Montagu recherchierte und erkundigte sich in ihrem Bekanntenkreis. So fand sie die Antwort: Eine spezielle Prozedur, die bei vielen Kindern durchgeführt wird, schützt ein Leben lang vor den Pocken. Dabei wird mit einer Nadel oder einem Messer ein leichter Schnitt in die Haut des Armes gemacht. In diese Verletzung wird dann etwas Pockenmaterial von einem Erkrankten übertragen. In der Regel frische Eiter oder getrocknetes Material. Das Ganze dauert nur ein paar Minuten. Die Stelle wird verbunden und das Kind kann wieder zum Spielen gehen. In den nächsten Tagen bekommt das so behandelte Kind leichtes Fieber und einige wenige Pockenpustel. Nach einer Woche verschwinden die Symptome und das Kind ist von nun an vor den Pocken geschützt. Dieses Verfahren beschreibt Lady Montagu in einem Brief aus dem Jahr 1717. Ihr wurde gesagt, dass die Kinder dabei keinen Schaden davontragen. Durchgeführt wird die Prozedur, auch Variolation genannt, von älteren Frauen, die keinerlei klassische medizinische Ausbildung haben. Deshalb also gab es viel weniger pockennarbige Menschen. Durch die Behandlung in der Kindheit waren sie geschützt. Wobei das Verfahren nicht nur im osmanischen Reich praktiziert wurde. Erfunden wurde es wahrscheinlich Jahrhunderte zuvor in China. Auch in Indien und Teilen Afrikas wurde es angewandt. 

Lady Montagu kannte die Schrecken einer Pockenerkrankung. Deshalb wollte Sie ihren dreijährigen Sohn auf jeden Fall davor bewahren. Das Verfahren der Variolation war die Chance. Sie vereinbarte einen Termin mit einer kundigen Frau. Diese führte die Prozedur der Variolation bei dem Sohn der Lady durch, der anwesende Leibarzt der Familie versorgte anschließend die Wunde. Die Reaktion des Jungen war zum Glück wie erwartet. Einige Tage Krankheit, ein paar Pockenpustel und danach war wieder alles in Ordnung. Und der Sohn sollte ein Leben lang von den Pocken verschont bleiben. Schließlich wurde ihr Mann als Botschafter abberufen und die Familie ging zurück nach England. Lady Montagu machte es sich von nun an zur Aufgabe, für die Variolation von Kindern zu werben, um damit das Pockenmonster zu bekämpfen. Doch sie erfuhr viel Ablehnung.

Überzeugungsarbeit
Die Ablehnung, vor allem durch die Ärzte, hatte unter anderem religiöse Gründe: Warum sollten Christen sich etwas von Muslimen beibringen lassen. Auch wollte man kein Verfahren von unausgebildeten Heilerinnen übernehmen. Was wissen die schon von der medizinischen Wissenschaft. Wobei die damalige medizinische Wissenschaft nichts gegen die Pocken ausrichten konnte. Es wurden Abführ- und Brechmittel gegeben, die Menschen wurden zur Ader gelassen oder mit Kaltwasserkuren behandelt. Diese Verfahren waren wirkungslos, dennoch waren sie für die Ärzte durchaus lukrativ. Und schließlich war Lady Montagu eine Frau, noch dazu ohne ärztliche Ausbildung. Allein deshalb viel es den Ärzten der damaligen Zeit schwer, ihrer Empfehlung zu folgen.

Vier Jahre nach der Rückkehr der Familie auf Konstantinopel, im Jahre 1721, kam es in England erneut zu einem Ausbruch der Pocken. Der Sohn von Lady Mary war durch die Variolation geschützt, doch die dreijährige Tochter war gefährdet. Damit wollte sich Lady Mary nicht abfinden. Sie überzeugt den Arzt, der bei der Variolation ihres Sohnes dabei waren, ihre Tochter entsprechend zu behandeln. Und sie lud weitere Zuschauer ein, unter anderem den Leibarzt des Königs. Auch diese Behandlung verlief ohne Komplikationen. Und auch die kleine Mary sollte Ihr Leben lang von den Pocken verschont bleiben. Nach und nach zeigte das unablässige Werben für die Variolation Wirkung. Die Frau des Thronfolger, Prinzessin Caroline, wollte ihre Kinder entsprechend behandeln lassen. Doch König Georg I. lehnte zunächst ab. Er misstraute dem unbekannten Verfahren. Er forderte weitere Tests, die die Unbedenklichkeit belegen sollten. Doch an wem sollte man diese Tests durchführen? Immerhin bestand die Gefahr, die tödlichen Pocken zu bekommen.

Arzneimittelstudien wie wir sie heute kennen, waren damals unbekannt. Schließlich fand man 6 Personen für die Tests. Doch die drei Männer und drei Frauen machten sicher nicht ganz freiwillig mit. Es waren Strafgefangene, verurteilte Verbrecher. Und wenn Sie mitmachten und die Prozedur überlebten, sollten sie freigelassen werden. Die Prozedur der Variolation wurde vor einigen Dutzend Wissenschaftlern und Ärzten durchgeführt. Die Gefangenen überlebten und trugen keine Schäden davon. Eine der Gefangenen wurde in der Folge den Pocken ausgesetzt – sie blieb gesund. Weitere Tests wurden durchgeführt, diesmal mit Kindern eines Waisenhauses. Aus heutiger Sicht ethisch untragbar. Auch die Kinder überstanden die Prozedur unbeschadet. Daraufhin gab König Georg die Erlaubnis: Prinzessin Caroline durfte ihre Kinder mit der Variolation behandeln lassen. Allerdings nur die Töchter. Die Söhne und möglichen  Thronfolger sollten dem Risiko nicht ausgesetzt werden. So ganz überzeugt war König Georg dann wohl doch nicht. Das Verfahren setzte sich dennoch nach und nach durch. Wobei die englischen Ärzte eine spezielle Art der Variolation entwickelten. Das ursprüngliche Verfahren, wie es Lady Montagu in Konstantinopel kennengelernt hatte, war schnell und einfach. Die englischen Ärzte machten daraus eine wochenlange Prozedur. Das brachte auch mehr Geld ein. Die Patienten wurden zur Ader gelassen, bekamen Abführmittel und mussten eine spezielle Diät einhalten. Aus heutiger Sicht völlig wirkungslos und überflüssig. Auch führten die Ärzte die eigentliche Variolation nicht optimal durch. Sie schnitten zu tief in die Haut. Damit gelangte manchmal zu viel Pockenmaterial in de Körper, mit möglicherweise tödlichen Folgen. Doch im Großen und Ganzen wirkte das Verfahren und schützte sehr gut gegen die Pocken.

Von Kuhpocken und Menschenpocken
Eines der Kinder, dass diese Prozedur durchmachte, war ein 8-jähriger Waisenjunge namens Edward Jenner. Die anstrengende, wochenlange Prozedur blieb ihm in unguter Erinnerung. Später wurde er Arzt und machte sich daran, die Variolation zu verbessern und sicherer zu machen. Er entwickelte die erste Impfung. Kuhpocken sind eng mit den menschlichen Pocken verwandt. Und Menschen können sich auch mit den Kuhpocken anstecken, allerdings ist diese Infektion harmlos. Man bekommt einen Ausschlag an den Händen, hat vielleicht leichte Krankheitssymptome – das war‘s. Es gab Berichte, dass eine Infektion mit Kuhpocken auch vor den menschlichen Pocken schützte. Edward Jenner griff diese Berichte in den 1790er auf und modifizierte das von Lady Montagu eingeführte Verfahren. Er verwendete krankmachendes Material einer Kuhpocken-Infektion und übertrug dies in die Hautwunde. Und es funktionierte. Menschen, die so geimpft wurden, waren auch immun gegen die menschlichen Pocken. Jenner hatte das Verfahren effizienter und sicherer gemacht. Im Gegensatz zu Lady Montagu war er ausgebildeter Arzt – und ein Mann. Damit  fiel es ihm leichter, bei seinen Fachkollegen Gehör zu finden und sie von der Wirksamkeit der Impfung zu überzeugen. Die Impfung gegen die Pocken fand immer weitere Verbreitung. Es wurde wieder zu einem schnellen und einfachen Verfahren und damit auch bezahlbar für die breiten Massen. In den 1970er Jahren gelang schließlich die Ausrottung der Pocken. Dank einer globalen Impfkampagne. Und auch Dank des mutigen Engagements der Lady Montagu, 250 Jahre früher. Ihr gelang es, gegen alle Widerstände, ihre Familie gegen die Pocken zu schützen. Und Sie legte den Grundstein für die Entwicklung einer effizienten und sicheren Pockenimpfung.

Zur Podcastfolge (mit Quellenangaben)